Ehrenmorden

Nach Angaben der Nachrichtenagentur “ISNA” kommt es im Iran jährlich zu 375 bis 450 Ehrenmorden. Anlässlich des “Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen“ wird folgend eine Geschichte aus erster Hand erzählt.

Meine Cousine Soheila, damals erst 12 Jahre alt, war wunderschön und voller Energie. Die Söhne ihrer Onkel waren begierig darauf, sie zu heiraten, Soheila jedoch hatte andere Träume. Sie verspürte keine Neigung zu einer traditionellen Ehe mit einem ihrer Cousins und wollte stattdessen studieren und eine andere Zukunft haben als ihre Mutter und ihre ältere Schwester, die, als sie in Soheilas Alter war, die Schule abgebrochen hatte. Ihre Gefühle und langfristigen Wünsche waren für ihren Vater, ihre Onkel und ihren Cousin „Khaled“, der den Wettbewerb um eine Heirat mit Soheila “gewonnen hatte”, unbedeutend. Es kam, wie es kommen musste: Soheila verließ die Schule und wurde ungewollt zur Braut einer Trauung, in welcher sie mit zittriger, unsicherer Stimme „Ja“ sagte.

Lassen Sie uns einen Moment innehalten, ohne die Geschichte Soheilas zu kennen. Müssen wir erst solche Geschichten lesen, um die Fülle systematisierter Gewalt an Frauen zu verstehen? Wenn Sie sich bisher nicht mit diesem Thema befasst haben, werfen Sie einen Blick auf das Leben von Frauen in der Gesellschaft heute. Wir lesen an dieser Stelle abermals im Buch von Soheilas Leben, überspringen ihre Abenteuer um an die Stelle der Geschichte zu gelangen, indem sie mit zarten 13 Jahren, von Schmerzen begleitet, Mutter eines kleinen Jungen wird, der sie all den Schmerz vergessen lässt, sobald sie sein Lächeln sieht, als er in ihren Armen liegt.

Die Wendung von Soheilas Geschichte führt uns in eine Polizeistation in Ahvaz : An einem Frühlingsmorgen, gegen 5 Uhr, als die Luft an jenen kühlen und kargen Tagen in Khuzestan noch neblig war, betraten mehrere Männer in traditioneller, arabischer Kleidung eine  Polizeistation. Sie waren in Feierlaune, bewaffnet und legten beiläufig einen schweren Sack, den sie nur mit Mühe tragen konnten, auf den Boden. Auf den ersten Blick schienen sie stolz zu sein, ihre stolze und ehrenvolle Prahlerei war deutlich zu hören. Aber die Polizeibeamten, die solche Vorfälle oft beobachtet hatten, wussten genau, dass hinter dem Stolz und der oberflächlichen Ehre das gebrochene Herz von Brüdern steckte, die im Namen der ungeschriebenen Stammes- und Familienehre dazu übergegangen waren, ihre Schwester zu ermorden. Brüder, die selbst Opfer der Unkenntnis der Stammes- und ethnischen Normen waren. Sie legten den zerstückelten Körper Soheilas, ihrer Spielkameradin aus Kindertagen, in einem blutbefleckten Sack auf den Boden und legten ein ebenso blutiges Messer auf den Schreibtisch der Polizeistation. Die Geschichte wurde so erzählt, dass “unsere Schwester, obwohl sie ein sechsjähriges Kind hatte, keine Lust hatte, mit ihrem Mann zusammenzuleben. Sie hatte letztes Jahr das Haus ihres Mannes verlassen und war zum Haus unseres Vaters zurückgekehrt. Trotz aller Interventionen war sie nicht bereit, zurückzukehren, obwohl sie wusste, dass sie mit dieser Trennung kein Recht mehr hätte, ihr einziges Kind zu sehen. Ihr Mann wollte keine Scheidung und lebte während dieser Zeit weiterhin mit seiner vorübergehenden Frau zusammen.”

Soheila war schön und jung und unbeirrt in ihrem Vorhaben, ihre Kindheitsträume weiter zu verfolgen. Vielleicht hatten Mädchen in ihrem Alter nicht über eine Heirat nachgedacht und lehnten die Idee Schul- und Universitätsbänke zu drücken scherzhaft ab. 
Die arme Soheila, eingehüllt in ein verworrenes Blutnetz, wartete darauf, zu beobachten, wie die Familienväter über ihr nächstes Schicksal entscheiden würden. Die Brüder und Cousins ​​führten den Mord an Soheila auf getrieben von Gerüchte aus, die sie von Nachbarn, Freunden und Bekannten gehört hatten und die scharfen, verurteilenden Blicke der Menschen waren ihnen zu viel. Sie zweifelten an Soheilas Keuschheit und jener irrationale Zweifel überschattete alles Andere!

Anmerkung: Aus Schutz der Leidtragenden wurden die Namen in der Geschichte geändert.